Auf Einladung von Prof. Dr. Harald Seubert, Fachbereich Philosophie, Religions- und Missionswissenschaften, hielt Frau Prof. Dr. Dr. hc. Eveline Goodman-Thau (* 1934) im Mai 2019 zum Semesterende die Hermann Cohen-Vorlesungen an der STH Basel.
Goodman-Thau überlebte gemeinsam mit ihren Eltern in den Niederlanden die Schoah. So wurde sie eine herausragende Zeitzeugin, ähnlich der fünf Jahre älteren Anne Frank. In der Schweiz kam sie nach 1945 in der Nähe von Basel in Sicherheit. Seit 1956 lebt sie in Jerusalem, sie ist Mutter von fünf Kindern und vielfach Gross- und Urgrossmutter. Neben ihrem Familienleben wirkte sie als Professorin unter anderem in Halle/Saale, an der Harvard Divnity School, in Wien, Kassel und Lüneburg. Das Überleben war angesichts der Vernichtungslogik Verpflichtung und Gnade gleichermassen. Goodman-Thau eignete sich im Lauf ihrer akademischen Laufbahn in einer einzigartigen Tiefe die Traditionen von Tora, Talmud und Mischna – einschliesslich der jüdischen Mystik – an. Sie bezeichnet sich selbst als eine «orthodoxe Unorthodoxe», die ihre tiefen Kenntnisse des Judentums über Jahrzehnte primär an Deutsche und Christen weitergibt, damit sie die jüdische Denk- und Lebensform verstehen können. Nicht Hass und ebenso wenig eine billige Versöhnungsgnade bestimmt ihr beeindruckendes Werk, sondern die Verbindung von Christentum und Judentum, Philosophie und Offenbarung: Athen hat in Jerusalem seinen Ort und umgekehrt.
Hermann Cohen (1842–1918) spielt im Verhältnis von Judentum und modernem Denken eine besondere Rolle, da er, gegen die Logik der Säkularisierung, an der Einheit von Religion und Wissen festhielt. Er verbindet die Traditionen deutschen und europäischen Geistes mit dem Bundes- und Zukunftsdenken des orthodoxen Judentums: Wie Goodman-Thau ist er gleichermassen Philosoph und orthodoxer Jude. Seine «Reliigon der Vernunft aus den Quellen des Judentums» ist das Vermächtnis, das Cohens Witwe aus dem Nachlass edierte. Die Tragik der Geschichte zeigt sich darin, dass Martha Cohen 1942 nach Treblinka deportiert wurde und dort den Tod fand.
Cohens «Jüdische Schriften», die bislang kaum umfassend gewürdigt werden, zeigen, wie die Partikularität, die Erwählung des jüdischen Volkes, mit der Universalität der Bundestheologie verbunden sind. Die Wahrheit erschliesst sich situativ und bleibt gleichzeitig in der Tradition verankert. Im Einzelnen gingen die Vorlesungen vor allem dem Verhältnis von abstrakter Autonomie und gelebter Freiheit im Bund mit Gott und dem Jüdisch-Sein innerhalb einer christlichen Kultur nach. Cohen zeigte dies um 1900 in einer Situation des latenten oder auch offenen Antisemitismus; es wird heute im Zeitalter des Populismus neu akut. Dabei ist zu beachten, dass die europäische geistige Identität nicht nur christlich, sondern auch jüdisch geprägt ist.
Goodman-Thau brachte die spezifische jüdische Lehrart, die sich an Text und Kommentar entzündet. Mit Martin Buber betonte sie, das Gespräch zwischen Juden und Christen entzünde sich in dem Hören auf Gottes Wort und Offenbarung. Dies ist ein besonderes Geschenk, da Cohens Schüler alle ausgelöscht wurden und die Linie nicht weiterführen konnten. Cohens Denken ist aber der Ausgangspunkt der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne, von Rosenzweig bis Lévinas, die in der Sache von der Einheit jüdischen Glaubens und Denkens ausgeht.
Prof. Dr. Harald Seubert