Was können wir von dem Bibelverständnis der Christen des Reformationszeitalters lernen? Um Antworten auf diese Frage zu geben, fanden sich am 6. und 7. Juni 2014 fünfzehn Wissenschaftler aus der Schweiz, Deutschland, Belgien, Schottland und den USA zusammen.
6. – 7. Juni 2014, STH Basel
Im
Jahr 2014 fand wieder eine reformationshistorische Tagung an der STH
Basel statt. Nach der Calvin-Tagung (2009) und der Tagung „Basel als
Zentrum des geistigen Austausches in der frühen Reformationszeit“ (2012)
widmete sich diese Tagung dem Thema der „Bibelauslegung und
-hermeneutik in der Reformationszeit“.
Die Tagung wurde
vorbereitet von Johann Anselm Steiger (Hamburg), Christine Christ-von
Wedel (Basel) und Sven Grosse (Basel), mit Beratung durch Berndt Hamm
(Erlangen/Ulm).
Sven Grosse, STH Basel, legte in seinem Eröffnungsvortrag dar,
dass die reformatorische Bibelauslegung auf Voraussetzungen beruht,
welche von Anfang an von den christlichen Auslegern anerkannt waren: die
Schrift ist nicht irgendeine Zusammenschichtung ganz verschiedenartiger
Stücke, die gar nicht zusammen gehören, sondern sie ist eine Einheit.
Sie ist eine Einheit, weil Jesus Christus ihre Mitte ist. Das
Eigentümliche der Auslegung Luthers besteht darin, dass die Schrift
Gottes eindeutiges Trostwort für den angefochtenen Menschen ist.
Ulrike Treusch,
CVJM-Hochschule Kassel und STH Basel, zeigte in der Auslegung der
Erzählung von Marta und Maria aus Lk 10,38-42 einen Unterschied zur der
mittelalterlichen Auslegung auf: die Auslegung der mittelalterlichen
Mönche setzte Marta für das tätige weltliche Leben, Maria für das
beschauliche mönchische Leben. Luther hingegen sagt, dass hier zwei
Seiten in ein und derselben menschlichen Person angesprochen werden:
Maria steht für das Hören auf Gottes Wort und den Glauben, Maria auf die
tätige Liebe, die aus dem Glauben hervorgeht.
Stefan Felber,
Theologisches Seminar St. Chrischona, machte in seinem Vortrag am
Beispiel von 1. Mose 3,15 deutlich, welches Niveau die traditionelle
Auslegung, wie sie auch Luther vorträgt, gegenüber dem modernen
Verständnis dieser Stelle hat: weil die verschiedenen Teile der Bibel
eine Einheit bilden und sich gegenseitig kommentieren, ergibt sich, dass
mit dem «Nachkommen der Frau» der Mensch Jesus Christus gemeint ist,
der, nicht der Sünde unterworfen, imstande ist, die Sünde und den Teufel
zu überwinden. Diese Stelle ist die erste Gestalt des Evangeliums!
Jason Lane,
Milwaukee, USA und Universität Hamburg, und Sarah Stützinger,
Universität Hamburg, zeigten, dass Luther trotz der kritischen Worte,
die er in den Vorreden von 1523 für den Jakobus- und den Hebräerbrief
fand, in seinem Verständnis der Anfechtung (Jakobusbrief – 1. Mose 22)
und in seinem Verständnis des Sühnetodes Christi (Hebräerbrief) sehr
stark auf diese beiden Briefe zurückgriff. Es besteht also, recht
betrachtet, keine Berechtigung, sich für Sachkritik an der Bibel auf
Luther zu berufen.
Lutz Danneberg,
Humboldt-Universität, Berlin, sprach über Melanchthons Verständnis von
2. Tim 2,15: «der das Wort der Wahrheit recht austeilt» wird von ihm
gedeutet: «der es recht teilt», d.h. unterscheidet – in Gesetz
und Evangelium. Andreas Beck, Absolvent der STH Basel und jetzt an der
Evangelisch-Theologische Fakultät in Löwen, Belgien, zeigte, wie Martin
Bucer seine Lehre von der Vorherbestimmung aus der Exegese des
Römerbriefs entwickelt. Luca Baschera, Universität Zürich, verglich die
Auslegungen Luthers und Bullingers von Gal 2,11-14: Hat sich Petrus nur
falsch verhalten oder sich auch in der Lehre geirrt?
Andreas Mühling,
Universität Trier, wies nach, dass alle Schriften Heinrich Bullingers
(mit dessen Worten sich die STH Basel in ihrem Leitbild zur Heiligen
Schrift bekennt) als Trostschriften, die sich aus der Schrift speisen,
angesehen werden können. Mark Elliott, University of St Andrews,
Schottland, sprach darüber, wie Cajetan und Estius, zwei katholische
Theologen des 16. Jahrhunderts, Calvin in seiner Auslegung relativ nahe
kommen.
Christoph Strohm, Universität Heidelberg, wies
darauf hin, dass der größte Teil reformierter Theologen im 16.
Jahrhundert, angefangen mit Calvin, zunächst Jura studiert hat. Welche
Auswirkung, fragte er, hat ihre Vorbildung heute auf die Studenten der
Theologie? Christine Christ-von Wedel, Basel, brachte Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in der Art zur Sprache, wie Erasmus von Rotterdam und
Martin Luther die Bibel auslegen. Stephen Burnett, Lincoln, Nebraska,
USA, zeigte, wie positiv Sebastian Münster, Professor für hebräische
Sprache in Basel, auf die jüdische Bibelauslegung einging. Stephen
Buckwalter, ein amerikanischer Mennonit, der in Heidelberg forscht,
verglich das Bibelverständnis des Täuferführers Pilgram Marpeck in
Straßburg mit dem Bucers: es zeigt sich, dass dieser Täufer, im
Unterschied zu Bucer, einen tiefen Schnitt zwischen Altem und Neuem
Testament setzt.
Hans Christian Schmidbaur, Universität
Lugano, sprach zum Schluss über den Augustinertheologen Girolamo
Seripando, der auf dem Konzil von Trient vergeblich für eine Lehre von
der Rechtfertigung warb, die der reformatorischen Lehre näher ist. «Oh,
wenn doch die Art des Paulus, das Evangelium zu verkünden, in der Kirche
bewahrt worden wäre!», waren Seripandos letzten Worte.
Das kann man
auch heute nur unterstreichen. In einer Zeit, in der Modeströmungen in
der Exegese, gerade in der Paulus-Deutung, auch evangelikale Kreise zu
einem großen Teil irritieren, war es erfrischend und bestärkend, sich in
die reformatorische Bibelauslegung zu vertiefen: Die Einheit der Bibel
in Christus, das Kreuz Christi zur Rechtfertigung und Vergebung der
Sünde sind ihre zentralen Botschaften.