Auf unserer Studienreise durch Kleinasien vom 03.–11.09.2020 waren wir laut Prospekt „auf den Spuren von Johannes und Paulus“. Manches war bei Paulus und Johannes aber doch gravierend anders als bei unserer Studienreise: Während Paulus den grössten Teil der Landstrecke seiner Missionsreisen wohl zu Fuss zurückgelegt hatte, war unsere Reisegruppe von ca. 18 Personen mit einem gut motorisierten und klimatisierten Reisebus unterwegs. Beleitet wurde die Gruppe vom türkischen Reiseleiter Atilla Nilgün und von Prof. Dr. Jacob Thiessen, Rektor und Neutestamentler der STH Basel, wobei sie von Prof. Dr. Christian Stettler, Titularprofessor für Neues Testament und Antikes Judentum an der STH Basel, unterstützt wurden.
Wir waren fast in „Lesegeschwindigkeit“ in Kleinasien unterwegs: „Sie aber zogen von Perge weiter und kamen nach Antiochia in Pisidien und gingen am Sabbat in die Synagoge und setzten sich“ (Apg 13,14). Das liest sich schnell, aber die Entfernung zwischen Perge und Antiochia bei Pisidien beträgt über 150 km Luftlinie und die Landschaft dazwischen ist ein Gebirge! Paulus brauchte für die Wegstrecke von rund 200 km vermutlich knapp zwei Wochen.
Auch Johannes hatte damals, als er die Sendschreiben schrieb, eine sehr viel „geringere Personenfreizügigkeit“ als wir. Er war damals auf die Insel Patmos verbannt und konnte die Gemeinden, an die die Sendschreiben gerichtet sind, darum nicht persönlich besuchen. Wir hingegen benötigten lediglich einen Reisepass oder Personalausweis zur Einreise in die Türkei.
Auch waren wir nicht auf der Art auf den Spuren von Johannes und Paulus, dass wir wie Paulus Gemeinden gegründet oder besucht hätten oder wie Johannes Gemeinden geleitet und eine überörtliche Autorität ausgestrahlt hätten, obwohl die Zurüstung zu solcher Art von Mitarbeit am Reich Gottes natürlich ein Anliegen der gesamten Ausbildung der STH Basel ist.
Nein, wir gingen auf die Spuren von Johannes und Paulus, indem wir die antiken Städte besichtigten, die Paulus bereiste und an die Johannes schrieb. In den letzten 100 Jahren wurden beachtliche Teile antiker Städte ausgegraben und von Hauptstrassen über antiken Tempeln, grossen Marmorstatuen und interessanten Inschriften (oder gar Graffitis) gibt es viel zu sehen! Durch spannende Erläuterungen von Theologen und Reiseführern können die Steine zum Leben erwachen und vor dem inneren Auge entsteht ein lebhaftes Bild der Umstände, der Kultur und dem Lebensgefühl einer längst vergangenen Zeit; der Zeit, in die Johannes und Paulus von Gott hineingestellt worden sind und in der sie Teile des Neuen Testamentes verfasst haben.
Hinreise
„Keep your social distance“ war die etwas nervtötende und immer wieder wiederkehrende Ansage aus dem Lautsprecher am Flughafen. Die wichtigen von den weniger wichtigen Ansagen zu unterscheiden, war gar nicht so einfach, aber wir kamen dank reisegeübter Leiter am Abend des ersten Reisetages wohlbehalten und vollzählig in Antalya an. Das fürstliche Abendessen, das wir in unserem Hotel der Stadt im Süden der Türkei am Meer bekamen, durften wir im ansonsten völlig leeren Speisesaal einnehmen – dieses Mal nicht ein Zeichen der aussergewöhnlichen Exklusivität der Reise, sondern ein Kennzeichen dafür, dass in Zeiten von Corona die Tourismus-Branche besonders leidet! Wir hatten viel Platz im Reisebus, meistens vergleichsweise leere Hotels und gerade bei den antiken Ausgrabungsstätten die besondere Gelegenheit, dass uns der Blick auf die Monumente nur selten durch andere Reisende verstellt wurde. Corona hat – je nach Blickwinkel – auch seine Vorteile. Das ist aber eine Schlussfolgerung, die die Besitzer und Angestellten der vielen Restaurants und Hotels in der Türkei, die aufgrund von ausbleibenden Touristenströmen schliessen mussten, bestimmt nicht ohne eine Betonung der Nachteile mit mir teilen würden…
Perge
Nach je einer Schwimmeinheit im Hotelpool und im warmen Meer fuhr unser Reisebus dann aber wirklich zu dem ersten eigentlichen Ziel unserer Reise, der antiken Stadt Perge. Wir liessen die Gegend der Gewächshäuser um Antalya, in denen Unmengen an Gemüse und Zitrusfrüchten kultiviert und zum Teil auch ins Ausland exportiert werden, hinter uns und hörten, in Perge angekommen, zuerst eine kurze Einführung zu den geschichtlichen Hintergründen und geopolitischen Gegebenheiten zur Zeit des Römischen Reiches. Unter anderem lernten wir die Namen der römischen Provinzen und den Verlauf der grossen Römerstrassen kennen. Vom Römischen Reich als einem grossen, zusammenhängenden und nach innen meist friedlichem Herrschaftsgebiet hat Paulus auf seinen Missionsreisen sehr profitiert: Er kam über die Römerstrassen vergleichsweise „schnell“ von A nach B. Ausserdem hat er seine römische Staatsbürgerschaft immer wieder als „Joker“ eingesetzt, wenn er aufgrund der Verkündigung des Evangeliums verhaftet wurde. Die römische Obrigkeit behandelte einen ihrer Bürger bevorzugter und gerechter als irgendwelche „Barbaren“.
Ein kleines „Schmankerl“ der römischen Infrastruktur hat mich mindestens so stark beeindruckt wie die Monumentalität der griechischen und römischen Baukunst: der Stöpsel. Als wir durch Perge liefen, war es heiss, und scheinbar war es auch in der Antike schon warm dort. Die Hauptstrasse der Stadt Perge ist so angelegt, dass ein Fluss mitten durch die Hauptstrasse der Stadt geleitet wird. Die Leitung ist nach oben hin offen gewesen, und es war die Aufgabe der Händler, die an der Hauptstrasse ihre Läden hatten, die Strasse mit dem Wasser aus der Leitung in der Mitte der Strasse zu befeuchten. So sollte der durch die Stadt wehende Wind Kühlung bringen – eine Art öffentliche städtische Klimaanlage also! Aber die römischen Bauingenieure haben schon damals auch mögliche Krisenszenarien bedacht: Was ist, wenn der Fluss anschwillt und eine Überschwemmung droht? Für diesen Fall gab es die Möglichkeit, die Leitung an verschiedenen Stellen durch das Ausziehen der Stöpsel hin zur Kanalisation zu öffnen und so die zerstörende Wirkung des Wassers zu verhindern.
Die Kanalisation war – auch wenn sie weniger imposant scheint als ein grosses Theater – ein wichtiger Bestandteil antiker Städte. Man brauchte die Kanalisation nicht nur für die öffentlichen Toiletten, sondern auch als Abwasserleitung für Trinkwasserbrunnen und die öffentlichen Bäder. In diesen Luxus kamen allerdings nur die Reichen, die Armen am Rande der Stadt mussten sich anders behelfen.
Als ich am Anfang der Reise mit den anderen Reiseteilnehmern ins Gespräch kam, traf ich zunächst „nur“ auf Theologen, z. B. einen reformierten Pfarrer, ein Offizier der Heilsarmee oder ein Prediger der Action Biblique. Als ich bei der Besichtigung des öffentlichen Bades in Perge versuchte, mir die lateinischen Namen für das kalte, das warme und das heisse Bad in Erinnerung zu rufen, half mir ein Mitreisender mit Sachkenntnis auf die Sprünge. Als ich erstaunt nachhakte, erfuhr ich, dass er früher Geschichtslehrer gewesen war und diese Terminologie schon an etliche Schülergenerationen vermittelt hatte (später war er allerdings auch Pastor geworden …)!
In dieser Episode hatte er wieder einen Schüler – und ich einen Nicht-Theologen gefunden. Ein bisschen übertrieben habe ich zwar schon, denn ich muss zugeben, dass ich schon vor der Besichtigung der Therme einen Manager und einen IT-ler „entdeckt“ hatte, später fand ich sogar einen Hauswart und eine Floristin. Ausserdem waren auf der Reise natürlich auch etliche Studenten der STH Basel.
Zum Stadion in Perge erklärte Atilla, unser türkischer Reiseleiter, dass es nicht nur für Sport-Events verwendet wurde, sondern dass in den Bögen, die aussen an der Mauer des Stadions waren, auch reger Handel stattfand. Das Stadion wurde zum Teil auch für Gladiatorenkämpfe genutzt, und unser Reiseleiter liess es sich nicht nehmen, ausführlich zu erläutern, wie es damals mit den Gladiatoren gewesen war: dass sie oft Sklaven waren, in Gladiatorenschulen ausgebildet wurden und aufgrund ihrer trainierten Körper auch als Sexidole galten.
Im Theater in Perge konnten wir an Ort und Stelle ein Fries betrachten, in dem unter anderem die Geburt des Dionysius zu sehen ist. Dionysius ist der Gott des Weines, des Wahnsinns, der Fruchtbarkeit und der Ekstase und spielt in den Mysterienkulten eine grosse Rolle, die eine Hintergrundfolie zum Verständnis des Neuen Testaments darstellen. Fast interessanter als das Fries fand ich es aber, einmal die Akustik in einem Theater zu testen, kann man doch das, was auf der Bühne gesagt wird, ohne grosse Mühe bis auf den hintersten Platz der Tribüne hören.
Auf der griechischen Agora, also dem Handelsplatz der Stadt, hielt uns Jacob Thiessen aus dem Kopf heraus eine Griechisch-Stunde zum Wortfeld agorazo (ἀγοράζω). Neben dem, dass man auf der Agora handeln konnte, und dort auch öffentliche Reden, Diskurse und Gerichtsverhandlungen stattfanden, gab es sogar einen Begriff, der das Gesindel bezeichnet, das sich auf diesem Platz herumtrieb (vgl. Apg 17,5; 19,38: ἀγοραῖος)!
Was hat Paulus mit all dem zu tun? Er lebte in dieser Welt, so wie wir heute in der technisierten Welt des 21. Jahrhunderts lebten, und musste sich mit der Kultur, der Politik und den Menschen der damaligen Zeit auseinandersetzen. Vermutlich ging er durch das Stadttor, das wir noch jetzt besichtigen könnten. Von einer Missionstätigkeit des Paulus in Perge lesen wir nicht explizit, umso ausführlicher wird in der Apostelgeschichte hingegen von Antiochia bei Pisidien berichtet, dem nächsten grossen Ziel unserer Reise.
Lukas berichtet, dass sich Johannes Markus von Paulus und Barnabas trennte, als sie in Perge in Pamphylien waren (Apg 13,13). Vielleicht hat er die hohen Berge vor sich gesehen und wollte dieses Abenteuer an sich vorübergehen lassen … Vielleicht war es aber auch ganz anders. Auf jeden Fall erzählte unser Reiseleiter auf dem Weg nach Konya, dem antiken Ikonion, sehr interessant von der Geschichte der Türkei: von den indogermanischen Völkeransiedlungen, den Lydiern und verschiedenen lokalen Fürstentümern, dem Einfluss der Meder und Perser und der Eroberung durch Alexander den Grossen, über die Expansion des Römischen Reiches, der Spaltung des Reiches, den Seldschuken und den aufkommenden osmanischen Kriegern bis zum grossen Osmanischen Reich, das schliesslich für Atatürks moderne Türkei Platz machte. Auch zu der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation lieferte Atilla Insider-Informationen, die man so in der westlichen Presse nicht hört. So wurde die lange Reise des Paulus im Bus mit geschichtlicher Unterhaltung zu einem kurzweiligen Ereignis.
Bereits „vorgewarnt“, nahmen wir wahr, dass wir in einem konservativeren Teil der Türkei angekommen waren. Während die Regionen an der Küste vergleichsweise liberal sind und es dort kein Problem ist, leicht bekleidet durch die Strassen zu gehen, wurde uns hier für beide Geschlechter ein „sittsamer Kleidungsstil“ nahegelegt. Wir sahen viel mehr Frauen mit Schleier und hörten in der Nacht im Hotel auch mehr von den Gebetsaufrufen der Muezzin.
Abends besuchten wir die einzige katholische Kirche in Konya, die ca. 50 Mitglieder hat. Konya ist eine Stadt mit ca. 2 Mill. Einwohnern! Es gibt dort auch eine kleine evangelikale Gruppe. An diesen Zahlen wird deutlich: Die Bevölkerung der Türkei ist grösstenteils muslimisch. Natürlich hat es darunter auch sehr viele nominelle Muslime, aber die Zahl der Christen ist verschwindend gering.
Antiochia bei Pisidien
Auf dem Weg vom Hotel zur antiken Stadt Antiochia erzählte uns der Reiseführer von den Parallelen zwischen dem römischen und griechischen Pantheon (= „Götterhimmel“), als wir dann aber dort waren, gingen wir – wie Paulus – zuerst in die Synagoge (eigentlich gingen wir in eine Kirche, die ist aber auf der alten Synagoge erbaut wurde).
Christian Stettler erzählte sehr spannend von der Hypothese, warum Paulus denn nach Antiochia zu Pisidien (Antiochia ad Pisidiam) gegangen sei. Er war auf seiner ersten Missionsreise zuerst in Zypern bei Sergius Paulus. Freigelassene Sklaven bekamen im römischen Reich den Namen ihres letzten Herren. Es könnte sein, dass die Eltern des Paulus freigelassene Sklaven des Sergius Paulus von Zypern waren. Sergius Paulus wiederum hatte Verwandtschaft in Antiochia zu Pisidien und hat Paulus vielleicht deshalb extra dort hingeschickt. Das würde erklären, warum Paulus ohne grosse Umschweife diese Stadt aufsucht, die doch mehr als 10 Tagereisen von der Küste entfernt liegt.
In Antiochia hatte es – wie auch sonst in Kleinasien – eine ganze Reihe von Juden. Anhand der Steuer, die im 1. Jahrhundert aus Kleinasien nach Jerusalem abgeführt wurde, kann man erkennen, dass dort mindestens 50 000 steuerpflichtige Juden lebten! Frauen und Kinder und nicht-steuerpflichtige Männer sind darin also noch nicht eingerechnet. Damit kommt man insgesamt auf eine Zahl von ca. 200 000 Juden in Kleinasien.
Jacob Thiessen las uns grosse Teile von Apg 13 vor. Dort wird beschrieben, wie Paulus in Antiochia zu Pisidien in der Synagoge das Evangelium verkündigte. Die Juden waren zuerst sehr interessiert und wollten am nächsten Sabbat mehr von Paulus hören. Bei seiner nächsten Predigt in der Synagoge kam „fast die ganze Stadt“ dort zusammen (Apg 13,44), um Paulus zu hören. Als das die führenden Juden mitbekamen, gönnten sie Paulus dieses Mass an Popularität und Erfolg nicht: sie stellten sich gegen ihn und widersprachen ihm öffentlich. Schliesslich stifteten sie eine Verfolgung an und vertrieben Paulus aus der Gegend!
Jacob Thiessen sprach auch über die Empfänger des Galaterbriefs. Der Galaterbrief ist Thiessen zufolge der erste Brief, den Paulus schreibt (bzw. der erste, der uns überliefert ist), und Paulus schreibt den Brief in einem sehr scharfen Ton: Die Christen in Galatien sollen sich nicht von den Juden davon überzeugen lassen, dass sie sich z. B. beschneiden müssten, um gerettet zu werden! Nein: Allein durch den Glauben an Jesus und nicht durch das Einhalten der „Werke des Gesetzes“ wird man gerettet. Wer das nicht lehrt, der bringt ein anderes Evangelium, das den Namen „Evangelium“ gar nicht verdient (Gal 1,6-10).
Gelehrte diskutieren nun darüber, ob Paulus den Brief an die Gemeinden geschrieben hat, die er in seiner ersten Missionsreise besucht hat oder ob er nur an Gemeinden in Nordgalatien gerichtet ist, die Paulus irgendwann anders gegründet hätte. Kurz und gut: Jacob Thiessen meint, dass Paulus nie in Nordgalatien war und der Brief natürlich unter anderem an die Gemeinde von Antiochia gerichtet war. Auch legte er grossen Wert darauf, dass dieses Antiochia in unseren Bibelübersetzungen nicht „Antichia in Pisidien“ heissen sollte, sondern „Antiochia zu Pisidien“. Es lag damals am Rand der Landschaft Pisidien und gehörte zur römischen Provinz Galatia.
Hierapolis
Nach einer weiteren langen Busfahrt, die unter anderem durch eine Kurzgeschichte des türkischen Schriftstellers Orhan Kemal bereichert wurde, sahen wir am Abend die Kalksinterterassen von Hierapolis. Es gibt bei Hierapolis kalthaltige Thermalquellen. Kommt die Quelle aus dem Boden, fällt dort Kalk aus, der sich dann auf dem Weg des Wassers den Berg hinunter absetzt. Dadurch entstanden im Laufe der Jahrtausende wunderschöne Terrassen, die teils mit Wasser gefüllt sind. Neben einem Shopping am Fuss der sogenannten „Baumwollburg“ (türkisch „Pamukkale“) konnten wir uns im Hotel sogar in warmem Thermalwasser suhlen!
Am Abend im Hotel erzählte einer der Pastoren bei uns am Tisch sehr interessant von verschiedenen Episoden seines Dienstes – es ist gut, dass auf dieser Reise nicht „nur“ Studierende waren! So konnte man auch von Menschen mit mehr Lebenserfahrung lernen und spannende Geschichten hören.
In Hierapolis liefen wir durch die Totenstadt (Nekropolis). Ich habe dort gelernt, dass der Sarkophag so heisst, wie er heisst, weil er ein aus zwei griechischen Worten zusammengesetzter Begriff ist: sarx heisst „Fleisch“, und phagos bezeichnet einen„Fresser“; zusammengesetzt wird dieser steinerne Behälter für die Toten also der „Fleischfresser“ genannt. Neben Sarkophagen sahen wir auch Rundgräber und Tempelgräber. Gold fanden wir keins – Atilla, unser Reiseführer, erklärte uns, dass die Gräber schon in der Antike geplündert wurden.
Es gibt dort auffällig viele Gräber von Reichen. Es könnte sein, dass viele Reiche in die Gegend von Hierapolis kamen, um sich hier behandeln zu lassen. Wenn die Heilung doch nicht klappte, liessen die Reichen sich dort gleich auch begraben.
Einige Teilnehmer pilgerten zum „Grab des Philippus“ (einer der sieben Diakone von Apg 6), das oberhalb von Hierapolis zu besichtigen ist, andere hofften (mit einem Augenzwinkern) darauf, Schriften von Papias von Hierapolis, einem Schüler des Apostels Johannes, zu finden, und ein Teil der Gruppe ging zum Theater von Hierapolis. In diesem Theater sind die Statuen und Säulen der Frontseite gut erhalten (bzw. restauriert), also der Teil, vor dem die Schauspieler auf der Bühne standen. Das war interessant, denn dieser Teil ist bei vielen anderen Theatern nicht mehr vorhanden oder schwer beschädigt.
Laodizea
In Laodizea gibt es sogar zwei Theater. Die Stadt war damals so reich, dass sie nach einem schweren Erdbeben um ca. 63 n. Chr. keine Hilfe von Rom zum Wiederaufbau der Stadt in Anspruch nehmen wollte! Das konnten sie schon selbst. Eines der Theater wird gerade saniert: Mit mehreren grossen Baukränen werden die Steine wieder an Ort und Stelle gerückt oder bei Bedarf auch ein Imitat eingesetzt – wie beim Zahnarzt!
Eine Kirche, die auf ca. 325 n. Chr. datiert wird, konnten wir nicht von drinnen besichtigen, weil momentan noch weitere Ausgrabungen stattfinden. Aber wir konnten durch vergitterte Tore einen Blick auf den kunstvollen Mosaikboden erhaschen …
Jacob Thiessen berichtete vor dieser Kirche vom sogenannten „Lokalkolorit“ der Johannesoffenbarung. „Lokalkolorit“ bedeutet, dass im Text eine Anspielung auf örtliche Gegebenheiten enthalten ist.
- Im Sendschreiben an Laodizea schreibt Johannes im Auftrag von Jesus: „Du sprichst: ‚Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!‘, und weisst nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloss“ (Offb 3,17) – die Gemeinde in Laodizea war sehr wahrscheinlich auch reich, wenn die Stadt so reich war.
- Weiter heisst es: „Ich rate dir, dass du […] Augensalbe [kaufst], deine Augen zu salben, damit du sehen mögest“ (Offb 3,18) – Laodizea war ein Zentrum der Augenmedizin und auch zur Produktion von Augensalbe.
Diese und andere Beispiele zeigen, dass der Autor der Offenbarung genau über die Gemeinden Bescheid wusste – und mit Bildern aus ihrem Umfeld zu ihnen sprach. Die Aufgabe eines Predigers heute ist es
- zum einen, die Bilder von damals verständlich zu machen (wozu auch diese Reise einen Beitrag leistete),
- und zum anderen, auch Bilder zu finden, die die Botschaft für uns heute aktualisieren und leichter verständlich machen.
Einer der Reiseteilnehmer zeigte Jacob Thiessen das Foto einer Säule, in der eine Menorah (also ein siebenarmiger Leuchter) eingeritzt ist, auf die etwas später ein Kreuz gezeichnet wurde (eine Grafik mit grosser Symbolik! Thiessen hatte in seinem „Reisebegleiter“ darüber geschrieben). Als Thiessen das hörte, machte er später mit dem Reiseteilnehmer extra einen Umweg, um diese Säule mit eigenen Augen zu sehen (und mit der eigenen Kamera zu fotografieren). Etwas wirklich selbst und mit eigenen Augen gesehen zu haben – das ist ja auch einer der Gründe für diese ganze Studienreise –, ist einfach ganz anders, als das gleiche nur auf Bildern gesehen oder gar in Büchern beschrieben zu haben!
Kollosä
In Kolossä sahen wir – Weintrauben beim Trocknen auf dem Hügel der antiken Akropolis! Ein Bauer nutzte den Berg, unter dem die noch nicht ausgegrabene Akropolis der Stadt liegt, um dort Sultaninen herzustellen. Trotzdem stellte Christian Stettler, der seine Dissertation über den Kolosserhymnus geschrieben hat, eine Prämie von 10 € aus für den, der in Kolossä eine Inschrift finden würde. Ein Student konnte diesen Gewinn tatsächlich für sich verbuchen!
Obwohl es in Kolossä nicht so viel Spannendes zu sehen gab, wurde natürlich eine kleine „Vorlesung“ abgehalten. Unter anderem sprach Christian Stettler über den Kolosserbrief. Die Gemeinde in Kolossä wurde von starken Argumenten der Juden in der Stadt bedrängt. Dort gab es scheinbar Leute, die sagten, sie hätten gesehen, wie die Engel im Himmel Gott lobten und anbeteten! Diese Menschen traten mit Sendungsbewusstsein auf, sie hatten ja auch eine übernatürliche Erfahrung gemacht! Ihr Wort hatte bei spirituell suchenden Menschen, die gerne auch so eine Vision gehabt hätten, grosses Gewicht.
Hochinteressant ist, dass Paulus nicht zuerst gegen diese falschen Lehren argumentiert (später im Brief dann schon). Paulus stellt zunächst dar, was die Christen in Kolossä in Christus alles haben. Er schreibt z. B. „[Gott] hat uns errettet von der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,13f.). Und gleich darauf sagt Paulus von Christus: Er hat alles gemacht, und er wird auch den Kosmos erneuern (vgl. Kol 1,15-20). Die Schlussfolgerung ist naheliegend: Wenn Jesus alles gemacht hat, dann ist er auch der Erschaffer der Engel – und damit grösser als sie. Die Christen in Kolossä brauchen also nicht „den Schwanz einziehen“ vor der Irrlehrern, sondern dürfen sich freuen und selbstbewusst sein: Jesus allein ist genug!
Christian Stettler stellte auch dar, dass Paulus sich diese hohe Sicht von Christus nicht einfach ausgedacht hat und dem Jesus von Nazareth hier etwas in die Schuhe schieben würde, was er nie von sich gemeint und gedacht hätte. Verbindet man die Verheissungen über den Messias aus dem Alten Testament und die Aussagen Jesu über sich selbst in den Evangelien, dann kommt genau das heraus, was Paulus hier über Christus sagt. Paulus hat es an dieser Stelle zusammengefasst und mehr explizit gemacht.
Sardes
Am nächsten Tag fuhren wir zu zwei Hauptstädten. Zuerst nach Sardes, der Hauptstadt der Lyder. Unser Reiseführer erzählte von dem reichen und sagenumwobenen König Krösus und davon, wie Gyges, der Leibwächter des Königs Kandaules, auf sehr spezielle Weise der Nachfolger von Kandaules wurde.
Christian Stettler erzählte, dass Krösus das Orakel von Delphi befragt habe, ob er gegen die Meder in den Krieg ziehen sollte. Sprecherin des Orakels von Delphi war eine Priesterin (Phytia), die sich möglicherweise an aus der Erde aufsteigenden Dämpfen berauschte und irgendetwas stammelte. Die sogenannten Propheten „übersetzten“ ihr unverständliches Gerede dann in Sprüche, die eine ganz bestimmte Charakteristik hatten: Sie waren absichtlich unpräzise, man konnte sie auf verschiedene Weisen verstehen (wenn man kein echter Prophet ist, der von Gott eine Offenbarung hat, muss man halt neben dem, dass man sich des gesunden Menschenverstandes bedient, dem Unvorhersehbaren einen gewissen Spielraum einräumen …). Diesem Charakter entsprechend war auch der Orakelspruch, den Krösus aus Delphi erhielt: „Wenn Du den Halys [einen Fluss] überquerst, wirst Du ein grosses Reich zerstören.“ Krösus deutete diesen Spruch so, dass er das für ihn Positive verhiess, nämlich dass er das Reich der Meder zerstören werde. Tatsächlich lief es jedoch umgekehrt.
In Sardes angekommen, befassten wir uns aber nicht mehr mit Königen und Dynastien, sondern mit dem Handwerk. An der Hauptstrasse von Sardes gab es eine Reihe von Ladengeschäften, in denen u. a. Farbe verkauft wurde. Jacob Thiessen liess sich vor einem Schild fotografieren, auf dem stand: „Jacobs Paintshop“.
Es gibt in den antiken Städten – das sahen wir auch in Sardes – eine ganze Menge Terrakotta-Rohre. In diesen Rohren wurde das Wasser zu den Häusern geleitet; gerade die Färber der Stadt brauchten Wasser, um ihr Handwerk auszuüben. Wäre diese Ausgrabungsstätte in Deutschland, hätte man als Besucher wahrscheinlich gar nicht die Möglichkeit, mit einem solchen Rohr in Berührung zu kommen. Hier aber muss ein Besucher durchaus aufpassen, wo er seinen Fuss hinsetzt, um nichts zu zerstören. Die Türken sagen (und vielleicht haben sie damit auch gar nicht so unrecht): „Wir haben so viele Steine [bzw. Terrakotta-Rohre], da kommt es auf drei nicht an.“
Bemerkenswert in Sardes ist eine Synagoge, die ca. 1000 Leute fasste! Sie war nicht aus der Zeit des Neuen Testaments, zeigt aber noch einmal die starke Präsenz der Juden in Kleinasien. Direkt neben der Synagoge liegt das Gymnasion, das von amerikanischen Archäologen restauriert wurde und einen Eindruck der imposanten Bauweise der öffentlichen Gebäude der damaligen Zeit bietet. Wir haben vor dem Hauptgebäude dieses Gymnasions ein Gruppenfoto gemacht, allerdings ohne den Platz auch wirklich für körperliches Training zu nutzen.
Morgens im Bus gab es in der ganzen Studienreise immer eine Kurzandacht über eines der Sendschreiben. Sehr eindrücklich redete Christian Stettler einmal über das Sendschreiben an Sardes. Dort heisst es: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot“ (Offb 3,1). Die Frage ist nun: Wie kann man das ändern, wie kann das geistliche Leben, das einmal da war, nun aber (fast) tot ist, wiederaufleben? Die Antwort ist (so Stettler) ganz einfach und steht im Text: „So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Busse!“ (Offb 3,3). Besinne dich zurück auf das, was du schon früher gehört hast. Man ist immer auf Neues aus. Oder man denkt, dass man eine höhere Stufe der Erkenntnis erreicht hätte, die mit dem Anfang nichts mehr zu tun habe. Das ist falsch. Die Lösung ist, sich auf das zurückbesinnen, was man vorher schon gehört hat, als man zum Glauben gekommen ist, nämlich dass Jesus am Kreuz für unsere Sünden bezahlt hat, dass er uns seinen Geist gegeben hat, dass wir Gottes Kinder sind und in Jesus Frieden haben. Es ist das einfache Evangelium. An dem sollen wir bleiben, zu dem immer wieder zurückkommen. Das ist selig machend. Mehr gibts nicht zu holen. „Mehr“ ist da immer weniger.
Pergamon
Wir waren beim „Thron des Satans“! Die Akropolis (also die Spitze der Stadt) war bei antiken Städten allgemein der Ort, an dem ein Tempel für die in der Stadt angebetete Gottheit stand. In Antiochia zu Pisidien war auf der Akropolis z. B. ein Augustustempel, hier gab es einige Meter unter der Spitze den berühmten Zeus-Altar von Pergamon. Den konnten wir nicht sehen, denn der befindet sich in Berlin. Der Strassenbauingenieur und Archäologe Carl Humann entdeckte den Altar in den 1890er-Jahren und brachte ihn mit Schiffen nach Deutschland; bis 1935 gab es in der Türkei auch noch kein Ausfuhrverbot für Antiquitäten. Humann hatte an der Stelle, an der der Pergamon-Altar gewesen war, einen Baum gepflanzt, den konnten wir sehen und das Grab Carl Humanns auch. Der türkische Reiseleiter sah darin einen gewissen Ausgleich: Die Deutschen haben den Pergamon-Altar, und Pergamon hat das Grab Carl Humanns.
In den Sendschreiben der Offenbarung steht: „Ich weiss, wo du wohnst: da, wo der Thron des Satans ist“ (Offb 2,13). „Ich weiss, wo Du wohnst“ ist in diesem Fall nicht bedrohlich, denn Gott will der Gemeinde – im Gegensatz zu feindlich gesinnten Jungs auf dem Pausenhof – nicht schaden, sondern er zeigt Verständnis für ihre Situation. Und diese Situation ist nun heikel: Beim Zeus-Altar wird die Summe aller Götter, der ganze Pantheon angebetet, aber nicht der eine wahre Gott, neben dem kein anderer ist!
Um klar zu bleiben: Es ist natürlich eine Spekulation, was nun der „Thron des Satans“ wirklich ist. Aber der Pergamon-Altar oder die pergamenische Akropolis im Gesamten wäre ein vielversprechender Kandidat, da beide wie ein Thron aussahen.
In Pergamon gibt es eines das steilste Theater der Antike, und wir hatten das seltene Vergnügen, das Theater durch einen seitlichen Tunnel zu betreten. Diese Tunnel, durch die die Volksmenge von mehreren Seiten ins (bzw. aus dem) Stadion strömen konnte, können heutzutage meist nicht begangen werden, weil sie baufällig oder eingefallen sind.
Pergamon hatte die zweitgrösste Bibliothek der Antike (nach Alexandria in Ägypten). Als die Ägypter mit ihrer Bibliothek in Alexandria Angst hatten, dass ausländische Bibliotheken sie an Grösse übertrumpfen würden, verhängten sie ein Ausfuhrverbot für Papyrus, das sie sie sowieso vorher schon im wahrsten Sinn des Wortes in Gold aufwiegen hatten lassen. Aus der Not heraus wurde dann in Pergamon – so die Sage – ein alternatives Schreibmaterial erfunden, nämlich Tierhäute, die auf eine spezielle Art bearbeitet wurden. Nach der Stadt Pergamon bekam die neue Erfindung, die daraufhin ihren Siegeszug rund um die Welt antrat, den Namen „Pergament“.
Weiter unten am Berg – aber immer noch innerhalb der Stadt Pergamon – liegt das grösste Gymnasion der Antike; der Gebäudekomplex ist grösser als 3 Hektar! Hier habe ich begriffen: Das Gymnasion damals war nicht nur für Sport oder militärische Ausbildung da, sondern auch für den Elementarunterricht. Sogar Bibliotheken gab es in manchen Gymnasien. Deshalb ist es doch nicht so verkehrt, wenn heute eine Schulart als „Gymnasium“ bezeichnet wird.
Abends fuhren wir zum Hotel und sahen auf dem Weg doch tatsächlich Flamingos! Der Reiseführer brüstete sich augenzwinkernd, er hätte sie extra für uns bestellt.
Weniger erquicklich waren nähere Informationen zur Situation von Einheimischen und Flüchtlingen auf der Insel Lesbos. Wir waren dort eben genau an der Grenze zwischen der Türkei und Europa, in der Schlepperbanden türkische Boote stehlen und ihr Unwesen treiben … Die Küstenwache ist hier etwas rigoroser unterwegs als anderswo! Vom Hotel aus hatten wir Ausblick auf die Insel Lesbos, und genau in dieser Nacht wurde das Flüchtlingslager in Brand gesetzt.
Gar nicht gewusst hatte ich, dass die Insel Lesbos die Namensgeberin für den Lesbismus ist! Die antike Dichterin Sappho soll auf Lesbos eine Frauenakademie gehabt haben. Es wird erzählt, dass sie sehr traurig war, als einige Absolventinnen die Schule verliessen, zu denen sie wohl eine zu intime Beziehung hatte …
Ephesus Tag 1
Der krönende Abschluss unserer Reise war Ephesus, die Stadt, in der wir vieles von dem, was wir in den vorhergehenden Städten verstreut gesehen hatten, an einem Fleck sehen konnten. Am ersten Tag gingen wir aber nicht in die Stadt, in der Paulus damals gelehrt hat, sondern gingen zuerst in das Ephesus-Museum und auf den Ayasoluk-Hügel, auf dem die Johannesbasilika und das Johannesgrab zu sehen sind.
Im Ephesus-Museum sahen wir viele Dinge, die draussen beim Besichtigen der „Steine“ öfters fehlen. Besonders schützenswerte und wertvolle Dinge wie Statuen, Reliefs und Inschriften. In Museen sind sie vor Vandalismus, Diebstahl und Verwitterung geschützt, können entsprechend beleuchtet, besser begutachtet und auch mit zusätzlichen Informationen versehen werden. In einem Raum gab es ganz viele Statuen oder sogar Statuen-Gruppen, die Personen bzw. Szenen aus der griechischen Mythologie darstellten. Bei vielen Statuen haben es nicht alle Körperteile geschafft, die Reise durch die Jahrhunderte zu überleben. Trotzdem besticht die Formgenauigkeit der Figuren des Öfteren! An einigen Statuen wurde auch deutlich, dass sich die Vorstellungen von den körperlichen Attributen des vollkommenen Mannes oder der vollkommenen Frau wohl über die Jahrhunderte hinweg nicht so gravierend verändert haben …
Die Hauptfigur des Museums war die Figur, die schon in der Antike die Hauptrolle in Ephesus spielte: die Artemis der Epheser (für Lutherbibel-Leser: Diana ist die römische Entsprechung der Artemis des griechischen Pantheons). Wir lernten im Reisebus, dass die Verehrung von Muttergottheiten in Kleinasien eine lange und lebendige Tradition hatte und dass Artemis die „Nachfolgerin“ von Kybele war, einer anderen Muttergottheit, die dort zuvor verehrt worden war. Die Fachleute diskutieren, was die vielen runden Dinger auf Bauch- bzw. Brusthöhe der Artemis-Statue sein sollen. Entweder sind es viele Brüste oder es sind Stierhoden – in jedem Fall aber sind es Symbole für Fruchtbarkeit. Übrigens sind die Artemisstatuen, die wir heute anschauen können, nicht die Statuen, die damals in Ephesus die meiste Huldigung und Anbetung erfuhren; es sind bereits in der Antike angefertigte Kopien (aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr.). Die eigentlich angebetete Statue im Tempel ausserhalb von Ephesus ist wohl nicht mehr vorhanden. Man spekuliert, dass die im Ephesus-Museum befindlichen Statuen deswegen so gut erhalten sein könnten, weil sie reiche Leute, die jetzt einen anderen Glauben hatten, wortwörtlich begaben haben! – vielleicht im Sinne eines symbolischen Abschiedes von dem alten Glauben. Die Statuen wurden übrigens im Oberen Ephesus im Prytaneion, dem religiösen und politischen Verwaltungsgebäude der Stadt, gefunden.
Zum Mittagessen waren wir in einem Restaurant, das in einem Eisenbahn-Museum untergebracht war. Wir konnten auf alte Dampfloks steigen und den Unterschied zwischen Waggons aus den 20er-Jahren im Gegensatz zu Waggons aus den 50er- und 90er-Jahren sehen. Das Restaurant hatte übrigens extra für unsere Reisegruppe geöffnet und wir waren auch die einzigen Kunden! Corona lässt grüssen …
Nachmittags beschäftigten wir uns mit dem Apostel Johannes. Dieser hat in seinem Alter in Ephesus gewirkt und dort wahrscheinlich das Johannes-Evangelium und die drei Johannesbriefe verfasst. Für die Offenbarung wird in der Regel Patmos als Abfassungsort genannt. Wir sprachen darüber, dass es die Diskussion gibt, ob nun der Apostel Johannes oder der Presbyter Johannes die Offenbarung geschrieben habe. Schon Eusebius hätte es gerne gehabt, wenn die Offenbarung nicht Teil des Kanons gewesen wäre, weil sie ihm zu deutlich von einem Tausendjährigen Reich redete … Es gibt aber keinen Grund, neben dem Apostel Johannes noch eine berühmte und anerkannte Gestalt mit Namen Johannes im Ephesus des 1. Jh. n. Chr. anzunehmen – der Apostel und der Presbyter sind einfach ein und dieselbe Person.
Wir besichtigten die Johannes-Basilika, eine Kirche, die an dem Ort des Grabes des Johannes errichtet worden sein soll. Interessant an dieser Kirche war das „Baptisterion“, also ein Taufbecken. Es wurde uns erklärt, dass der Täufling das Taufbecken von Westen betrat, sich in einem Gebet vom Teufel lossagte und dann von einer Amtsperson durch Untertauchen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft wurde. Nach dem Auftauchen stieg er in Richtung Osten aus dem Wasser. Der Taufende betete um den Heiligen Geist und salbte den Täufling mit Öl. Der Täufling sprach ein Übergabegebet an Gott. Nach der Taufe durften die Getauften zum ersten Mal am Abendmahl teilnehmen.
Auf dem Weg zum Hotel besichtigten wir noch den Platz, an dem früher der Artemis-Tempel stand, er ist etwas ausserhalb der antiken Stadt Ephesus gelegen.
Abends war ein ganz besonderer Gast auf dem Programm: Wolfgang Häde, ein Absolvent der STH Basel und christlicher Mitarbeiter in der Türkei, erzählte uns zusammen mit seiner Frau Janet von seiner Arbeit. Er berichtete davon, wie es den Christen in der Türkei geht. Frühere Muslime, die Christen geworden sind, bekommen oft Schwierigkeiten von ihrer Familie. Was mir noch gar nicht bewusst war, aber eigentlich ganz logisch ist: Ledige Christen haben Schwierigkeiten, einen Ehepartner zu finden. Es gibt einfach so wenig Christen!
Neben den ca. 7000 Christen in ca. 170 Gemeinden, die vorwiegend ethnisch Türken sind, gibt es ca. 100 000 Christen, von denen die Mehrheit zur armenisch-apostolischen Kirche gehören, andere z. B. zur griechisch-orthodoxen, aramäisch-orthodoxen und römisch-katholischen Kirche. Auf der Flucht vor der Terrororganisation IS sind viele Menschen aus dem Nachbarland Syrien in die Türkei gekommen, unter anderem auch Christen. Flüchtlinge kommen aus anderen Gründen auch aus dem Iran. Unter Iranern sind ca. 30 christliche Gemeinden entstanden.
Dass über 40 ausländische christliche Mitarbeiter in der Türkei in den letzten Jahren ausgewiesen worden sind und kürzlich die ehemalige byzantinische Kirche „Hagia Sophia“, die zuletzt ein Museum war, wieder zu einer Moschee umgewidmet wurde, sind öffentliche Kennzeichen, dass es auch privat zunehmend schwierig wird, als Christ in der Türkei zu leben.
Christen treffen sich in (meist öffentlich registrierten) Gemeinden, lesen gemeinsam die Bibel, beten und – wenn sie mutig sind – evangelisieren sie in ihrem Bekanntenkreis und z. B. durch Gespräche in Zügen und Bussen. Beten wir für eine evangelistische Bewegung von Dorf zu Dorf, für gute theologische Ausbildung und für Gottes Eingreifen in dieser Situation!
Am Ende des Vortrags wies Häde auf sein Buch „Mein Schwager – ein Märtyrer“ hin. Er beschreibt darin (ich hatte es recht schnell durchgelesen!), wie sein Schwager von einem hingegebenen Muslim zu einem hingegebenen Christen wurde und wie er, nachdem er von einem Kind im Glauben zu einem Mann im Glauben und zu einer Säule der Gemeinde geworden war, 2007 mit zwei anderen Männern (darunter der STH-Absolvent Tillmann Geske) aufgrund seines Glaubens brutal ermordet wurde.
Eigentlich wollten die Mörder auch Wolfgang Häde umbringen, aber die türkische Polizei stoppte sie am Ort ihres ersten Verbrechens. Dennoch ist Häde mit seiner Frau weiterhin immer wieder im Land. Er erklärte uns: Christen werden verfolgt werden. Das hat Jesus schon ganz am Anfang zu seinen Jüngern gesagt [z. B. Mk 13,9ff]. Wenn wir den Menschen in der Türkei den Glauben an Jesus vorleben wollen, dann können wir nicht einfach aus Angst weggehen. Sie leben als Christen unter Druck – wir auch.
Beten wir um Bewahrung für das Ehepaar und für die Gemeinden in der Türkei!
Ephesus Tag 2
Am zweiten Tag in Ephesus besichtigten wir dann tatsächlich die antike römische Stadt. Zum Teil erkannten wir in den Tempeln für die römischen Kaiser die Reliefs wieder, die wir schon im Museum gesehen hatten. Man hat die Originale ins Museum gebracht und eine Kopie anstelle des Originals eingesetzt. Eindrücklich ist die Säulenkonstruktion der Celsus-Bibliothek. Christian Stettler wies darauf hin, dass die Säulen der antiken Bauten nicht völlig parallel aufgestellt sind, sondern einen gemeinsamen Fluchtpunkt haben. Dadurch wirkt das Gebäude höher und monumentaler. Auch sind die Säulen in der Regel nicht lotrecht, sondern haben in der Mitte einen „Bauch“. Das gibt der Kontur zusätzlichen Schwung.
Ein Moment, der mir besonders in Erinnerung bleiben wird, ist die Lesung des 19. Kapitels der Apostelgeschichte direkt vor dem Theater von Ephesus. Paulus lehrte drei Jahre lang in Ephesus (vgl. Apg 20,31), und in dieser Zeit wurde das Evangelium in der ganzen Provinz Asia verkündigt. Vielleicht zeigten sich nach drei Jahren der Lehrtätigkeit des Paulus bereits ökonomische Auswirkungen seiner Predigt! Eigentlich waren kleine Artemis-Tempel der Verkaufsschlager der Handwerker von Ephesus. Jetzt war Paulus in der Stadt und sprach öffentlichkeitswirksam über das Evangelium. Dabei wurde deutlich: „Was mit Händen gemacht ist, das sind keine Götter“ (Apg 19,26). Demetrius, ein führender Goldschmied, erkannte: Breitet sich diese Lehre weiter aus, dann ist der Fortbestand des Geschäftes in Gefahr!
Unsere Reisegruppe hatte die Hauptstrasse von Ephesus besichtigt, die Strasse, an der die wichtigsten Einkaufsläden der Stadt platziert waren. Vielleicht verkaufte auch Demetrius seine Artemis-Tempel in dieser Strasse.
Demetrius hetzte deshalb das Volk gegen Paulus auf. Er sagte: „Aber es droht nicht nur unser Gewerbe in Verruf zu geraten, sondern auch der Tempel der grossen Göttin Artemis wird für nichts geachtet werden, und zudem wird ihre göttliche Majestät untergehen, der doch die ganze Provinz Asia und der Weltkreis Verehrung erweist. Als sie das hörten, wurden sie von Zorn erfüllt und schrien: ‚Gross ist die Artemis der Epheser!‘“ (Apg 19,27–28). Die Menge stürmte nun (die Strasse hinunter) zum Theater und schrie aufgewühlt und aufgehetzt zwei Stunden lang: „Gross ist die Artemis der Epheser!“ Der Stadtschreiber (der sein „Büro“ im Prytaneion hatte) konnte die Menge schliesslich beruhigen, indem er ihnen klarmachte, dass so ein Aufruhr der Bevölkerung von Ephesus in Rom durchaus auch negativ ausgelegt werden könne. Aber Paulus reiste nach diesem Vorfall klugerweise nach Mazedonien weiter …
Neben vielen anderen interessanten Dingen (leider hatten wir keine Zeit für die berühmten Hanghäuser in Ephesus) war die Besichtigung der Kirche, in der im Jahr 431 n. Chr. das Konzil von Ephesus stattgefunden hat, ein besonderes Highlight. Atilla, unser Reiseführer (mit muslemischen Wurzeln!), erläuterte einen der theologischen Streitpunkte, die auf dem Konzil verhandelt wurden. Es ging dort um die Frage, ob Maria nun „Gottesgebärerin“ sei oder nur die „Christusgebärerin“. Cyrill, Patriarch von Alexandria, war Vertreter der Partei, die Maria als Gottesgebärerin sah, während Nestorius, Patriarch von Konstantinopel, vertrat, Maria sei nur die Christusgebärerin. Atilla meinte, die muslimische Sicht sei ungefähr die nestorianische: Jesus sei im Islam eben nur ein Prophet und nicht der Sohn Gottes.
Christian Stettler legte ergänzend dazu noch dar, dass es bei dem Begriff „Gottesgebärerin“ eigentlich um Christologie ging, also darum, wie die göttliche Natur und die menschliche Natur in Jesus sich zueinander verhalten. War Jesus auf der Erde nun immer auch wahrer Gott oder nur wahrer Mensch? Wenn er wahrer Gott ist – so die Argumentation der „Siegerseite“ dieses Konzils –, dann ist es auch berechtigt, von Maria als „Gottesgebärerin“ zu sprechen. Auch die Nestorianer erkennen an, dass Jesus Gott ist. Sie denken sich aber die göttliche und menschliche Komponente Jesu mehr getrennt und schrecken deshalb davor zurück, Maria als Gottesgebärerin zu bezeichnen. Jacob Thiessen sah durchaus auch die mariologische Dimension der Entscheidung des Konzils und verwies darauf, dass die Verehrung Marias in der Katholischen Kirche in der Folgezeit dann unbiblische Züge angenommen habe.
Ausklang
Zum Mittagessen fuhren wir in das malerische Bergdorf Şirince. Der Reiseführer erzählte, dass dies bis 1925 ein von christlichen Griechen bewohntes Dorf gewesen sei. Im Zuge der Umsiedlungsaktionen nach dem Griechisch-Türkischen Krieg wurden diese nach Griechenland umgesiedelt, und dafür wurden Muslime aus Griechenland in diese Stadt gebracht. Die Einteilung war damals ganz einfach – und ist beispielhaft für das Selbstverständnis des Osmanischen Reiches und vieler islamischer Staaten heute: Die Christen sind Griechen und die Muslime sind Türken. Anhand dieses Selbstverständnisses wird deutlich, wie gravierend es ist, wenn ein Türke Christ wird!
In dem Dorf mit der griechischen Architektur gab es ein reichhaltiges Mittagessen und später Zeit, um zu shoppen, sowie für eine Fruchtweinprobe. Einige aus unserer Reisegruppe verzichteten an verschiedenen Tagen „freiwillig“ auf die kulinarischen Köstlichkeiten – ihr Magen hatte etwas Schwierigkeiten damit, sich im veränderten Umfeld zurechtzufinden … Ein Nicht-Betroffener meinte: „Das gehört zum Reisen in solche Länder eben mit dazu!“
Ephesus war auch insofern der krönende Abschluss der Reise, dass wir für die letzten beiden Tage in einem 5-Sterne-Hotel direkt am Strand logierten. So verbrachten wir den späten Nachmittag des letzten Tages in der Türkei im Wasser des ikarischen Meeres und genossen später die herrliche Aussicht auf die untergehende Sonne.
Rückreise
Am Tag der Heimreise kommentierte Jacob Thiessen bei der Fahrt zum Flughafen den Epheserbrief, um unserer Besichtigung von Ephesus einen würdigen Abschluss zu geben. Neben vielen nützlichen Hinweisen finde ich eine Sache, die er erzählt hat, sehr hilfreich dazu, den Epheserbrief anschaulicher werden zu lassen:
Im 2. Kapitel des Epheserbriefs führt Paulus aus, dass in Christus auch die Nicht-Juden zum Volk Gottes gehören. Nicht-Juden hatten ja ohne den Glauben an Christus kein Bürgerrecht in Israel. Sie gehörten damit nicht zu dem Volk, mit dem Gott einen Bund schloss. Sie hatten deshalb keinen Anteil an den Verheissungen Gottes – und damit auch keine Hoffnung in dieser Welt. Aber: In Christus gehören alle, die an Jesus glauben, zum Volk Gottes dazu!
Um das zu verdeutlichen, verwendet Paulus nun eine Anspielung. Er schreibt über Christus: „Denn er ist unser Friede. Er hat aus beiden eins gemacht und die Zwischenwand der Umzäunung, die Feindschaft, in seinem Fleisch abgebrochen“ (Eph 2,14–15). Jacob Thiessen erzählte, dass es im Tempel in Jerusalem eine Unterteilung des Vorhofs gab. Zwischen dem Teil des Vorhofs, den die Heiden betreten durften, und dem Teil des Vorhofs, den sie nicht betretend durften, war eine Abgrenzung. Heute noch gibt es einen Stein (im Israel-Museum von Jerusalem), auf dem in griechischer Sprache den Heiden, die diese Abgrenzung überträten, die Todesstrafe androht wird!
Paulus will sagen: Diese Umzäunung (obwohl sie damals noch voll intakt war) ist nun geistlich abgebrochen. Im Glauben an Jesus haben sowohl Juden als auch Heiden Zugang zu Gott (vgl. Eph 2,18).
Am Flughafen verabschiedeten wir uns herzlich von Attila, unserem Reiseführer. Er hat die Reisegruppe sehr gut geführt und uns auf viele spannende Dinge aufmerksam gemacht hat. Sein geschichtliches, archäologisches, politisches und kulturelles Wissen ist enorm und detailreich, sein Erzählstil sehr unterhaltsam, und seine witzige Art immer wieder auflockernd. Nicht umsonst hat er sogar schon Angela Merkel durch Anatolien geführt.
Dass die Reise nicht nur für uns Teilnehmer ein Erkenntnisgewinn war, zeigten die Tippgeräusche des Laptops von Jacob Thiessen, der neueste Erkenntnisse und Korrekturen in das Manuskript seines Buches und in eine Präsentation über Kleinasien einarbeitete …
Vor Antritt der Reise war ich mir nicht sicher, ob diese Steinhaufen antiker Bauwerke in der Türkei denn interessant sein könnten. Aber neben den Beiträgen von Attila waren es vor allem die Beiträge von Prof. Jacob Thiessen und Prof. Christian Stettler, die mein Verständnis für die Umwelt und die Botschaft des Neuen Testaments wachsen liessen und die Reise für mich zu einem Gewinn machten. Die Tatsache, dass ich mich gleich danach für eine weitere Studienreise angemeldet habe, spricht ebenfalls dafür, dass es mir gefallen hat!
Joachim Stilz, BTh. Student der STH Basel