Rückblick auf die wissenschaftliche Tagung an der STH Basel vom 20. bis 22. November 2015
Drei Tage, elf Perspektiven, ein Thema: Opfer. An einer Tagung wurde der Themenkomplex «Opfer» aus elf verschiedenen Perspektiven von hochkarätigen Referenten aus dem In- und Ausland beleuchtet. Neben Vertretern der klassischen theologischen Fachrichtungen Altes und Neues Testament, Religionsphilosophie und Ethik wurden auch kompetente Redner aus den Bereichen Patristik, Judaistik und Soziologie begrüsst, die wesentlich zum Gelingen der gut besuchten Tagung beigetragen haben.
Nach einigen begrüssenden Worten legte Prof. Dr. Johannes Schwanke am Freitagnachmittag in seinem Eröffnungsvortrag vor rund 50 Gästen, Dozierenden und Studierenden den Grundstein für die Tagung. Er hob hervor, dass sich Opfer bereits in der frühen Menschheitsgeschichte finden. Man habe den Göttern geopfert – und sich davon erhofft, sie gnädig zu stimmen. Jedoch lasse sich das Opfer nicht allein durch diesen do ut des-Zusammenhang – quasi «Eine Hand wäscht die andere» – erklären. Das Opfer ist folglich mehr als ein Geschenk, das auf ein Gegengeschenk hofft, und mehr als eine Handlung, die eine Reaktion erwartet. Anschliessend erklärte Schwanke die verschiedenen Möglichkeiten, wie der Opferbegriff verstanden werden könne. So gibt es im Deutschen im Gegensatz zum Englischen für die Begriffe «victim», «immolation» und «sacrifice» nur das eine deutsche Wort «Opfer». Das «sacrifice», das religiöse Opfer, ist gemäss Schwanke eine rituelle Handlung, die ein lebens- bzw. machthaltiges Wesen zerstört, um unsichtbare Kräfte zu beeinflussen und mit ihnen Gemeinschaft aufzunehmen, ihr Werk zu beflügeln und ihnen Genugtuung zu bieten. Der in Basel und Tübingen lehrende Systemmatiker kommt zum Schluss, dass das Opfer auch vom neuzeitlichen Menschen nicht einfach beiseitegeschoben werden kann, da es in unterschiedlichsten Variationen präsent ist – man denke an das Opfer (victim) von Mobbing oder Unfällen oder auch an das «Opfern» von beispielsweise finanziellen Mitteln (sacrifice).
Prof. Dr. Harald Seubert, der zweite Organisator der Tagung, der auch an der STH Basel lehrt, ging anschliessend mit einer religionsphilosophischen Perspektive auf das Thema «Opfer» zu. In einem eindrücklichen Referat beleuchtete er unter anderem die Opferkritik, welche sich nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam oder im Hinduismus findet. Auch das stellvertretende Opfer sei immer wieder in Frage gestellt worden. Trotzdem beobachtet er eine gegenwärtige Wiederkehr des Opfergedankens. Seit jeher sei das religiöse Opfer hauptsächlich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Erlangen von Vergebung verbunden worden. Er sieht Vergebung als die tiefste Form der Gabe, die nicht das Vergeben einer kleinen Sünde meint, sondern die der ansonsten unvergebbaren Schuld des Menschen.
Nach einer Kaffeepause referierte der Tübinger Alttestamentler und Judaistiker Prof. Dr. Stefan Schreiner die altorientalische Tradition des Opfers. Er betonte in seinem Vortrag die Vielgestaltigkeit des Opfergedankens im Alten Testament. Es gibt im AT eine Vielzahl von Einzelüberlieferungen in unterschiedlichsten Situationen und ungefähr 24 Begriffe, die allesamt im Bedeutungsfeld des deutschen Wortes «Opfer» zu verorten sind. Des Weiteren hob Schreiner die Chance des rabbinischen Vorgehens im Interpretieren der alttestamentlichen Texte hervor, um der Vielfalt der Überlieferungen gerecht zu werden. So ist es in der jüdischen Tradition möglich, dass ein Text Dutzende unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten mit einschliesst – ein Reichtum, der oft verloren zu gehen droht, wenn versucht wird, die eine und einzige richtige Interpretation eines Bibeltextes zu finden. Abschliessend zeigte er, dass es in einigen jüdischen Kreisen bereits zur Zeit Jesu üblich wurde, anstelle des Opferns im Tempel dieses durch das Studium der Schrift zu ersetzen.
Freitagabend sprach abschliessend der Neutestamentler Prof. Dr. Reinhard Feldmeier, der in Göttingen lehrt. Er betonte im Referat und auch in der anschliessenden Diskussions- und Fragerunde unter anderem stark, dass der Opfertod Jesu, so wie er stattfand – nämlich äusserst grausam – nicht das Gottesbild eines zürnenden Gottes vermitteln solle, der mittels der Aufopferung seines Sohnes mit der Welt versöhnt werden muss, sondern dass Gott dadurch zeigen wollte, wie er ist – ein Gott, der sich selbst hingibt – und wie wir Menschen sind: grausam und in Sünde verstrickt. Er legte Wert darauf aufzuzeigen, dass nicht Gott das Opfer braucht, sondern wir Menschen. Er fordert nicht ein Opfer, sondern gibt sein Liebstes und erträgt durch seinen Sohn die Schuld der Welt.
Am Samstag sprach dann zu Beginn des Tages als erster Referent Prof. Dr. Mark Edwards aus Oxford, der das Opfer aus der Perspektive der Patristiker, der Kirchenväter, betrachtete. Unter anderem sprach er über das Verständnis des Abendmahls, welches auch als Opfer gedeutet werden kann. Er hob hervor, dass bereits mehrere Generationen vor Konstantin, dem römischen Kaiser, der die Christenverfolgungen beendete, das Wort den Altar und das Opfern abgelöst hat. Bereits die Urkirche sei aus exegetischen und philosophischen Gründen gegen das Opfer gewesen und die Schrift habe dessen Zentralstellung übernommen. Unter Konstantin im frühen 4. Jahrhundert wurde dann die Eucharistie immer stärker als Opfer verstanden – eine Diskussion, die bis heute anhält. Das Abendmahl – ein Opfer? Für Edwards ist aufgrund der altkirchlichen Zeugnisse und deren Interpretation der in Frage kommenden Bibelstellen klar, dass das Abendmahl nicht als blutloses Opfer verstanden werden sollte, wie es formal die ökumenische Tradition besagt, die darauf besteht, dass der Teilhaber am Abendmahl tatsächlich Leib und Blut Christi einnimmt.
Dr. Patrick Koch aus Hamburg ging anschliessend aus jüdischer Perspektive an das Thema «Opfer» heran. Er zeigte, wie sich im rabbinischen Judentum, spätestens nach der Zerstörung des Herodianischen Tempels in Jerusalem im Zusammenhang des Jüdischen Krieges im Jahr 70 n. Chr., das Judentum von einer rege opfernden Religion auf der Basis der alttestamentlichen Opferkritik zu einer Religion hin entwickelt, in welcher das Opfern von Tieren kaum mehr praktiziert wurde und wird. Unter anderem zitierte er Hosea 6,6: «Denn ich habe Lust an der Liebe, nicht am Opfer – und an der Erkenntnis Gottes, nicht am Brandopfer». Aufgrund solcher Bibeltexte begann man um die Zeitenwende, das Opfern durch wohltätiges Handeln abzulösen. Auch durch Fasten habe das Opfern ersetzt werden können, da beim Opfertier vor allem das Fett und das Blut Gott dargebracht wurde – welches beim Menschen aufgrund des Fastens auch abnimmt und somit als geopfert verstanden werden kann.
Anschliessend sollte das Referat von Prof. Dr. Reza Hamid Yousefi aus arabisch-philosophischer Perspektive stattfinden. Yousefi konnte jedoch aufgrund persönlicher Umstände kurzfristig nicht anwesend sein, und so wurde sein Skript verlesen. Darin ging er unter anderem auf die parallele Erzählung der Bindung Isaaks/Ismaels in Gen 22 in der Bibel und in Sure 37 im Koran ein. Während in der Bibel vor allem der unerschütterliche Glaube Abrahams im Fokus ist, wird im Koran vor allem die Demut und die Ergebenheit Ismaels, der geopfert werden soll betont. Dieser fordert seinen Vater dazu auf, Gott zu gehorchen und ihn zu töten, was jedoch dann, wie auch in der Bibel, von Gott verhindert wird.
Prof. Dr. Oliver O’Donovan, Edinburgh, entwickelte den Gedanken des Opfers in ethischer und dogmatischer Perspektive weiter: Die Hingabe Jesu Christi geht über ein Opfer hinaus. Sie gibt ein Bild des Guten, an dem sich menschliches Handeln orientieren kann.
Prof. Dr. Markus Enders widmete sich der Frage nochmals aus religions- und kulturphilosophischer Perspektive: Er benannte in Bezug auf die jüngere Forschung wichtige Kriterien für den Opferbegriff und wies Vergleichbarkeiten und Einzigartigkeiten des christlichen ein für alle Mal (ephapax) geschehenen Opfers gegenüber einem universellen Opferbegriff aus.
Aus soziologischer Perspektive schloss Prof. Dr. Jost Bauch, Euskirchen, Konstanz, den Reigen ab: Der profilierte Luhmannschüler zeigte, wie die Opferperspektive in das Selbstverständnis gesellschaftlicher Minderheiten eingehen kann und wie soziale Kommunikation menschliche Individualität selbst «opfert».
Eine bedeutende Erweiterung leistete die Lesung des Schriftstellers und einstigen DDR-Dissidenten Ulrich Schacht, Fjorslov/Schweden und Berlin. In Schachts Novelle ‚Grimsey‘ wird durch Erinnerung die Perspektive eines menschlichen Lebens in Täter- und Opferperspektive sichtbar. Schachts Gedichte sind eindrückliche Meditationen der Geschöpflichkeit und Endlichkeit des Menschen.
Joel Baumann und Prof. Dr. Harald Seubert